Ich hab viel geschrieben...
Will sah auf seine Uhr. Kurz nach elf Uhr. Er hatte vorgehabt, sich um elf Uhr mit Grell Sutcliff zu treffen. Vor dem Eingang.
Aber er kam nicht. Will öffnete die gläserne, riesengroße Tür und trat hinaus auf die Straße. Die Blätter fielen von den Bäumen, alles war in warme, dunkle Herbstfarben getaucht. Sogar das Licht wirkte beinahe golden. Außerdem war es ziemlich kalt.
Zügig setzte er sich in Bewegung und bog in die Hauptstraße ein. Und dann, von einem Augenblick auf den anderen verebbte die Stille. Leute riefen durcheinander, Pferde wieherten, Straßenmusiker spielten auf ihren Violinen, Kinder schrien, in der Ferne flötete eine Dampflokomotive. Augenblicklich blieb er stehen, in seinen Ohren rauschte es. Er war schon immer empfindlich gegenüber Geräuschen gewesen. Schnell schüttelte Will den Kopf und ging weiter – direkt in den Lärm hinein. Es wurde immer lauter, als würde um seinen Kopf ein Dutzend Bienen schwirren, jede einzelne voller Stimmen und Geräusche. Urplötzlich gaben seine Knie nach, und Will entfuhr ein leises Stöhnen. Er dachte, er würde nun in den Dreck fallen, aber stattdessen packte ihn irgendjemand von hinten. Grell Sutcliff hatte sich Wills Arme zwischen Unter- und Oberarm geklemmt und ihn somit aufgefangen.
„Es gehört sich nicht, andere zu versetzen“, sang er ihm leise ins Ohr. Will versuchte, seine Verlegenheit zu verbergen, klopfte seine Hose ab und sagte: „Sie waren mindestens vier Minuten zu spät. Ich hatte jedes Recht, alleine loszugehen.“
„Tse“, machte Grell und stolzierte los. Will hatte Mühe, mit ihm Schritt zu halten, schließlich musste er laufen, um mit ihm auf gleicher Höhe zu bleiben. „Was haben Sie vor?“, keuchte er.
Grell, der nicht im Geringsten angestrengt zu sein schien, erwiderte: „Ich weiß, wo er ist, dieser... Thomas. Folg mir einfach“, grinste er durch seine spitzen Zähne. Einfach? Will lachte innerlich. „Aber er müsste doch noch in der Druckerei sein!“, sagte er im Laufen.
„Falsch“, erwiderte Grell, „er wurde heute schon früher entlassen, weil er einen Termin bei einem Verleger hat.“
Woher wusste Grell das? Verwundert blickte Will ihm in die Augen – doch das war ein Fehler, denn eine Sekude später stieß er gegen eine ältere Frau. „Passen Sie doch auf!“, schrie sie ihm nach, als er weiter rannte.
Grell grinste und bog in eine kleinere Straße ein, wo es nicht mehr ganz so laut war. Will entspannte sich, seine verkrampften Muskeln wurden etwas lockerer. Schließlich wurde Grell langsamer, bis sie vor einem großen Gebäude aus Backstein stehenblieben.
Will wollte gerade etwas sagen, da zog sein Partner ihn hinter einen Busch.
„Ich habe jetzt nicht das vor, was du denkst“, grinste er, als er sich die Jacke auszog. „Ich brauche lediglich eine weiche Unterlage zum Sitzen... Oder Liegen. Also“, fuhr er fort, „ich habe meine Arbeit erledigt. Weck mich, wenn irgendwas passiert.“
Also blieb Will einfach sitzen, spähte durch die kahlen Zweige hinaus auf die Straße. Thomas Wallis schien bereits in dem Gebäude zu sein, denn er kam in der folgenden Stunde nicht vorbei.
Will fühlte sich behaglich hier, warm, geschützt vor Blicken, mitten in der Öffentlichkeit und trotzdem wie in einem kleinen Haus. Über dem Busch hingen die schweren Zweige eines Baumes, dahinter war nur der Hinterhof eines Schlachthauses, das längst keinem mehr gehörte.
Und plötzlich stand direkt vor ihm, auf der anderen Seite des Busches Chris. Er starrte ihn durch die Zweige hindurch an und verzog keine Miene. Perplex rieb Will sich die Augen, und als er einen Augenblick später wieder nach draußen schaute, war Chris verschwunden.
Irgendwann am späteren Nachmittag, als die Tür zum zigsten Mal aufging, schrak Will auf. Da. In der letzten Stunde hatte er abgeschaltet. Er hatte zwar immer auf dieselbe Stelle gestarrt, aber nichts davon mitbekommen, was passiert war. Immer nur ein Gesicht im Kopf.
Und da war das Gesicht. Will hielt die Luft an. Niedergeschlagen, resigniert, frustriert, enttäuscht, fast verzweifelt. Mit diesem Gesicht und hängenden Schultern trottete Thomas Wallis davon.
Hastig weckte Will seinen Partner und rüttelte an seinen Schultern, während dieser schlaftrunken vor sich hin murmelte.
Er musste das schaffen. Egal, ob allein oder mit ihm. Schnell schlüpfte er unter dem Busch hervor und huschte hinter Thomas Wallis auf die andere Straßenseite, wo die hohen Häuser mit den Flachdächern standen. Er machte einen Schritt zwischen zwei eng beieinanderstehende Hauswände. Perfekt. Jetzt musste er nur noch... Ja, er musste geschickt sein und es so machen wie Grell. Für Zweifel hatte er jetzt keine Zeit. Flink stieß er sich zwischen den beiden Hauswänden hin und her, immer weiter nach oben. Als er oben war, suchte er kurz die Straße nach Thomas Wallis ab, und er hatte Erfolg. Er war noch gar nicht so weit weg, und so reichte es, dass Will zügig neben ihm herlief. Nur mit ein paar Metern Höhenunterschied, dachte er belustigt.
Jetzt bewegte sich Thomas Wallis in Richtung seines Heims. Will sprang von dem Dach ab und folgte ihm unauffällig, bis er schließlich das kleine Wirtshaus erkannte. Als der junge Mann das Haus betrat, wartete Will kurz ab, dann drehte er um. Für heute hatte er genug, es war bereits spät am Nachmittag und noch kälter geworden. Fröstelnd machte er sich auf den Weg nach Hause.
Wenig später stand er neben der Spüle, vor sich auf dem hellen Holz der Küchentheke ein paar Karotten, nicht mehr ganz frischer Schnittlauch und eine handvoll Kartoffeln. In letzter Zeit aß er immer viel Gemüse. Er brauchte jetzt Energie.
Nachdenklich begann Will, die Karotten in kleine Stifte zu schnippeln.
Kaum hatte er sie einen Tag lang nicht gesehen, vermisste er sie so sehr, als wären sie sich seit Wochen nicht mehr begegnet. Ihre weichen hellen Haare, die ein wenig gewellt waren. Ihre großen mandelförmigen Augen, deren Farbe er noch nie hatte erkennen können, da er sie immer nur nachts zu Gesicht bekam. Ihre kleinen, weichen Hände mit den glatten Fingernägeln. Den leisen süßen Duft, der sie immer wie Seide umgab.
Er musste sie wiedersehen. Bald...
*
Ein leichter Nebel lag in der Luft. Zwischen das leise, stetige Rauschen mischte sich ein Ton, ein Akkord, der wie der Gesang von Engeln kang. Es war unglaublich hell, aber das Licht blendete nicht. Es war warm und sanft. Weiße Federn fielen von oben auf sie herab, streiften ihre Haut fast unmerklich und glitten dann unter ihr in die Tiefe.
Sie dachte, sie hätte es geschafft. Warum? Warum war es so unmöglich, ihr den größten Wunsch zu gewähren, den sie je gehabt hatte? Es war kein Verbrechen. Es war... ihr Schicksal.
„Du hättest das nicht tun dürfen“, ertönte eine leise, aber klare Stimme. Sie kam nirgendwoher, sie war überall. Ein Schauer lief ihr über den Rücken.
„Ich weiß“, sagte sie leise. Es war eine Lüge.
„Ich muss dich bestrafen.“ Nun wurde die Stimme lauter.
Sie nickte zaghaft.
„Du wirst sterben!“, rief die Stimme.
Sie wäre in sich zusammengesackt, wenn sie könnte. „Nein!“, schrie sie. „Bitte nicht! Ich mache alles!“
„Dies ist die einzige gerechte Strafe“, sagte die Stimme und wurde wieder leiser. „Du wirst durch einen Shinigami sterben. Schnell und schmerzlos. Er macht seine Sache gut, das verspreche ich dir.“
Sie kämpfte gegen die Tränen an. Sie wollte nicht sterben, denn... dafür gab es sie nicht.
„Die, die in deinem Herzen sind, werden für immer dort bleiben“, sagte die Stimme tröstend.
Jetzt konnte sie sich nicht mehr halten. Eine Träne rollte aus ihrem Auge und tropfte auf eine Feder, die daraufhin zerfiel. Die vielen kleinen Flaumknäuel wirbelten im Kreis herum. Weitere Tränen folgten, bis ihre Wangen tränenüberströmt waren. Obwohl sie niemanden sah, spürte sie, wie sie in die Arme genommen wurde. In weiche, warme, sanfte, ungeheuer tröstende Arme.
Er war so gerecht. Er bestrafte jeden, ohne ihn zu hassen, liebte jeden, egal was er tat, war Richter und Beschützer zugleich. Sie schmiegte sich kurz in seine Arme, dann fragte sie zögerlich: „Wie lange noch?“
„Nicht mehr lange“, antwortete die Stimme.
*
Will schrak auf. Er war beim Kochen eingeschlafen. Und hatte vergessen, seinen Wecker zu stellen. Es war zehn Uhr morgens.
Hastig sprang er auf. Ihm wurde schwindlig und er setzte sich auf einen Stuhl. Sein Kopf dröhnte. Die Schmerzen pochten in seiner Stirn. Ihm war speiübel.
Er würde zumindest am Vormittag nicht viel machen können. Also schleppte er sich in sein Schlafzimmer aufs Bett. Er wollte sich noch duschen, aber es gelang ihm nicht mehr. Sofort war er wieder eingeschlafen.
Beobachtungstagebuch William T. Spears
Das Objekt Thomas Wallis ist ein ehrbarer junger Mann. Tagsüber arbeitet er in einer Druckerei und abends schreibt er in seinem Zimmer an einem Roman. Er war damit schon bei einem Verleger, aber er scheint kein Glück gehabt zu haben.
Arbeiten, Roman schreiben, einen Verleger suchen. Das ist sein ganzes Leben.
Will klappte sein Beobachtungstagebuch zu und schaute in den goldenen Himmel des frühen Abends. Da, an dieser Stelle, musste der Shinigami aus Sternen gewesen sein. Und hier... Ja, neben ihm hatte sie gesessen. Als hätte sie einen Teil ihrer Anwesenheit auf der Bank hinterlassen, berührte er das splittrige Holz neben sich. Nichts. Kein Schauder, kein warmes Prickeln in seinen Armen. Einfach nur Holz. Und... ein Splitter im Daumen.
Dieser Thomas Wallis schien keine Probleme zu machen, aber... seine Existenz wäre sicherlich nicht weltbewegend. Mit sehr großer Wahrscheinlichkeit würde er sterben.
Will fühlte sich etwas besser. Morgen würde er wieder arbeiten können.
Plötzlich hörte er Schritte. Rasch sprang er auf und versteckte sich hinter einem Baum. Er sollte noch kurz unentdeckt bleiben.
Thomas Wallis. Lange hellblonde Haare, ein Teil davon am Hinterkopf zusammengebunden, niedergeschlagener Gesichtsausdruck, einen Stapel Papier in der Hand. Seufzend ließ er sich auf die Bank nieder, wo gerade noch Will gesessen war. Er schob das Papier in seinen Händen hin und her und sah betreten zu Boden.
„He, du!“, sagte eine männliche Stimme neben Will. Er drehte sich zur Seite und wurde von einem grellen Rot geblendet: Sutcliff. Er trug einen tiefroten Mantel, der ihm bis fast zu den Knien reichte. Beim Oberkörper teilten sich die beiden Hälften des Stoffes, die mit länglichen vergoldeten Knöpfen verschlossen waren. Darunter trug er ein weißes Hemd und ein rotes Jackett, am Kragen prangte eine hellrote Schleife. Auf dem Kopf saß ein schwarzer Piratenhut. Er hatte sein typisches Grinsen aufgesetzt.
„Diese Aufmachung“, murmelte Will. Dieser Sutcliff machte immer so viel Wirbel um nichts.
„Das ist doch völlig egal“, sagte er und hob eine Hand. „Und? Willst du immer noch nicht den Stempel draufdrücken?“
„Es sind doch erst drei Tage vergangen“, erwiderte er kühl.
„Was soll das alles?“, nörgelte Grell und drehte Will den Rücken zu. „Ich bin der Erde so überdrüssig und aufregende Männer gibt es hier auch keine! Also triff deine Entscheidung schell.“
Plötzlich wurde er ungeheuer wütend auf Grell. Er hatte diese respektlose Art, interessierte sich nur für etwas, wenn er selbst Vorteile daraus ziehen konnte. Also erwiderte Will möglichst ungerührt: „Gut, wie Sie wollen.“
Es war an der Zeit. Er ging zu der Bank, auf der er eben noch selbst gesessen war.
Ein Paar großer Augen betrachtete ihnüberrascht mit gläsernem Blick. Die Augen waren tiefblau, wie der Himmel an wolkenlosen Sommertagen. Will hatte noch nie ähnliche Augen gesehen. Es waren die von Thomas Wallis.
„Guten Tag, der Herr“, sagte Will freundlich. „Mein Name ist William T. Spears, sehr erfreut.“
Verdutzt antwortete Thomas: „Äh... Guten Tag, ich bin...“
„Thomas Wallis“, beendete Will den Satz für ihn.
„Aber woher...“
„Dürfte ich diesen Roman sehen?“
Es war kein Wunder, dass der Roman nicht angenommen geworden war. Es ging in den knapp 100 Seiten einzig um den Adeligen Mr Cole, und man erfuhr nicht einmal seinen Vornamen. Wallis beschrieb darin sein tägliches Leben und schob sehrgeschickt Kritik an der Regierung des Landes ein.
„Diese Prosa erscheint mir etwas sehr weitschweifig“, kritisierte Will.
„Ganz genau dasselbe hat auch schon ein Verleger zu mir gesagt“, klagte Thomas.
Will wollte gerade etwas erwidern, da packte Grell ihn plötzlich und unerwartet am Kragen.
„Sag mal, was treibst du denn hier?“, zischte er. Will konnte den Geruch süßer Pfefferminze, den er so verabscheute, deutlich wahrnehmen.
„Das Sie sagten, ich solle mich schnell entscheiden...“, sagte Will schnell. Er wollte, dass Grell Abstand nahm.
„Und deshalb...“ Will hielt die Luft an. „Bist du bescheuert?!“, rief Grell.
„In den Vorschriften zur Überprüfung steht nicht, dass es verboten ist, Kontakt aufzunehmen“, zitierte Will.
„Warum tragen Sie denn eine Sense bei Sich?“, kam es von Thomas Wallis. Will war erleichtert, einen Grund zu haben, den Kopf wegzudrehen und antwortete schlicht: „Das ist eine Todessense.“
Grell gab einen erschrockenen Laut von sich. „Du kannst doch nicht...“
„Eine Todessense?“, wiederholte Thomas. „Das ist doch eine, wie sie die Shinigami mit sich führen sollen... Nicht wahr?“
„Ja“, sagte Will und stand auf. „Wir beide sind tatsächlich Shinigami.“ Grell sprang entsetzt auf und Thomas Wallis‘ Miene wurde verständnislos.
Es ist“ fuhr Will fort und neigte sein Gesicht so, dass sich die Abendsonne in seiner Brille spiegelte, „nämlich so, dass Sie schon in allernächster Zeit sterben werden – wir haben zu überprüfen, ob Sie ein Mensch sind, der es wert ist, weiterzuleben.“
Grell hielt ihm seine Sense an die Kehle. „Ich hätte dich doch gleich töten sollen.“
Will zitierte wieder: „Dass man seine Identität nicht bekanntgeben darf, steht nicht in den Prüfungsrichtlinien.“
Empört rief Grell: „So etwas versteht sich doch von selbst!“
Begeistier sagte Thomas nun: „Jetzt verstehe ich, Sie beide sind sicherlich Schauspieler! Ist das etwa diese avantgardistische Form des Theaters, bei der die Zuschauer in die Handlung miteinbezogen werden?“
„Halt den Mund!“, unterbrach ihn Grell. „Kinder haben hier nichts zu melden!“ Will musste unwillkürlich grinsen.
Ungerührt schwärmte Thomas weiter: „Damit erklärt sich auch ihr fantastisches Aussehen!“ Grells Gesichtsausdruck wurde fassungslos. „Die leuchtend roten Haare, die zarte blasse Haut – ich habe noch nie zuvor einen so schönen Mann gesehen. Unser London ist wirklich eine Weltstadt!“
„Oh ja!“, schrie Grell jetzt. „Diese Welt ist die Bühne und ich bin der Schauspieler. Die Handlung ist eien Liebesgeschichte zwischen Mann und Frau, nein – ein Drama um die verzweifelte Hoffnung zwischen ihnen!“
Während Grell hysterisch zu lachen begann, musste Will an sich und... an sie denken.
Will wusste immer alles. Dabei wusste er noch nicht einmal ihren Namen.