„Ach... Ich bin nur... etwas erkältet...“, log ich. Ich hatte jetzt keine Lust darüber zu reden. „Jetzt im Sommer?“, fragte sie misstrauisch. „Ja... Ich weiß... Das nervt mich...“, murmelte ich. „Hä?“, machte Min-chan, „Was nervt dich?“ „Äh... Na, der Schnupfen natürlich....“ „Du siehst ja ganz niedergeschlagen aus“, sorgte sich Minami weiter um mich. „Ach, das kommt nur, weil... weil ich so... müde bin...“ Mir war jetzt einfach nicht nach Ausreden zumute. Traurig starrte ich den leeren Sitzplatz neben mir an, der einmal Sotsuke gehört hatte.
2. Kapitel:
Es ist nur ein Traum
Seit Schulbeginn herrschte eine seltsame Atmosphäre in unserem Klassenzimmer. Alle waren leicht angespannt und es schien, als könnte sich niemand wieder so richtig an die Schule gewöhnen. Wir saßen nebeineinander wie Fremde, und niemand quatschte mit seinem Sitznachbarn wie sonst immer. Alle saßen still und aufmerksam auf ihren Stühlen und hörten den Lehrern genau zu. Sogar ich flüsterte Min-chan kein einziges Mal etwas zu. Wenn ich sie fragte, was mit uns allen los sei, meinte sie bloß: „Das ist die frische Motivation! Wir hatten Ferien und sind wieder ausgeruht! Natürlich passen wir jetzt besser auf.“ Außerdem starrte mich Mostaku immer noch an. Ich fand ihn mit jedem Tag seltsamer. Er hatte fast jeden Tag diese seltsamen Störungen. Ich konnte gar nicht hinsehen, so schmerzhaft sah es aus... Noch dazu versuchte er, es so unauffällig wie möglich zu machen, und trotzdem war es nicht zu übersehen. Wundervollerweise hatte noch niemand ihn gefragt, was sein Problem war. Wahrscheinlich war er auch froh darüber. Aber es musste ihm doch klar sein, dass ihn irgendwann jemand darauf ansprechen würde! Rannte er deshalb immer so schnell weg, damit niemand mit ihm reden konnte? So überlegte ich während der langen Unterrichtsstunden hin und her anstatt aufzupassen; mir kam vor, dass ich die Einzige war, die nicht mitbekam, was die Lehrer vor sich hin redeten. Das ärgerte mich; am Nachmittag musste ich immer alles nachschreiben, was ich während der Schulzeit nicht mitbekommen hatte. Deshalb und auch weil ich wissen wollte, was ihm immer solche Schmerzen bereitete, beschloss ich, ihn nach der Schule anzusprechen. Oder auch in der Pause. Es konnte ja nicht so schwer sein, mit einem normalen Menschen zu reden.
Gesagt, getan. Schon am nächsten Morgen hielt ich Ausschau nach Motsaku. Aber er kam wie immer erst , wenn die Stunde schon begonnen hatte. Ich hatte Glück: Die Lehrerin war trotzdem noch nicht gekommen, also nutzte ich die Gelegenheit und ging auf die andere Seite der Klasse zu Motsaku. „Hey“, begann ich das Gespräch. „Hallo“, sagte er kühl und sah mich nicht an. „Und, hast du dich schon eingelebt?“, fragte ich freundlich. „Geht so“, antwortete und sah mir immer noch nicht in die Augen. „Geht es dir gut? Ich meine, du sahst in den letzten Tagen so aus, als hättest du Schmerzen.“ Jetzt sah er mich endlich an. In seinem Gesicht sah man keine Emotionen. Er war einfach nur ernst. Seine Augen waren hellgrün. Verdutzt starrte ich ihn an... Waren seine Augen nicht noch vor ein paar Tagen meerblau gewesen? „Das ist nur... Ich habe...“ Plötzlich hörte man ein dumpfes Geräusch: Die Tür hatte sich geöffnet und unsere Naturkunde-Lehrerin stand vor der Tafel. Frustiert lief ich zu meinem Tisch und setzte mich neben Min-chan. „Du bist die Erste die mit ihm redet“, flüsterte sie und sah starr nach vorn. „Und...?“, flüsterte ich gereizt zurück. Noch immer ernst sagte Minami: „Er ist ja sehr emotionsreich.“ „Hör doch mal auf mit dem Blödsinn!“, flüsterte ich lauter. Ich hatte schlechte Laune. „Mache ich ihn gut nach?“, sagte Minami leise mit monotoner Stimme. „Leider...“, flüsterte ich wieder leise zurück. Min-chan kicherte und ich schaute wieder zu Motsaku. Erschrocken stellte ich fest, dass sein Gesichstausduck aussah, als würde er gleich sterben. Er krümmte sich diesmal sogar auf seinem Stuhl und hielt sich die Hand auf den Bauch. „Schau mal! Siehst du Motsaku da drüben?“, flüsterte ich Min-chan aufgeregt zu. Sie spähte an mir vorbei zu seinem Tisch und zog die Augenbrauen zusammen. „Uh“, machte sie mitleidig, „sieht ganz nach Blinddarmentzündung aus.“ Misstrauisch schielte ich wieder zu ihm. Wieder hatte ich das Gefühl, er würde irgendwie flackern... Aber ich schüttelte schnell den Kopf und sah nach vorne. Du solltest dir eher Sorgen um deinen Geisteszustand machen, sagte ich mir leise. „Hm, hast du was gesagt?“, fragte Minami im Flüsterton. Ich schüttelte wieder den Kopf. „Dieser Motsaku ist echt komisch!“, sagte Min-chan. „Will der nicht mal zum Arzt gehen?“ Ahnungslos zuckte ich mit den Schultern und schrieb mir zum ersten Mal seit Schulbeginn etwas während des Unterrichts auf. An diesem Tag kam ich nicht mehr dazu, ihn etwas zu fragen, denn wir hatten am Nachmittag Sport und Mädchen und Jungen turnten getrennt. Aber ich blieb ehrgeizig und nahm mir vor, diesen geheimnisvollen Jungen am nächsten Tag wieder anzusprechen.
Aber auch am folgenden Tag hatte ich keinen Erfolg. Nur einmal, in der Pause, schaffte ich es, mit ihm zu sprechen. „Hey. Was wolltest du gestern noch sagen?“ „Ach, nichts“, erwiderte er, kalt wie immer. Wenigstens sah er mir diesmal von Anfang an in die Augen. Doch komischerweise schienen seine Augen heute grünbraun zu sein... „Doch! Du warst doch kurz davor, mir zu sagen, warum du dich so... warum du solche Schmerzen hast!“, sagte ich lauter. „Die hab ich nicht... Also... Ich... Mein Blinddarm wird erst in zwei Wochen rausgeholt. Ich bin weg.“ Damit verschwand er. Kopfschüttelnd sah ich ihm nach und stützte die Hände in die Hüften. Misstrauisch seufzte ich. „Was meine Vermutung bestätigt“, triumphierte Minami. Ich hatte jetzt erst bemerkt, dass sie die ganze Zeit von unserem Tisch aus zugehört hatte. „Aber... Mit dem stimmt doch was nicht! Das ist doch nicht normal, jede Stunde... na, du weißt schon! Nicht mal, wenn man eine Blinddarmentzündung hat!“, protestierte ich. Einige Schüler wurden auf unser Gespräch aufmerksam. „Na, dann hat er halt was anderes zu tun“, sagte Min-chan schlicht. „Spionier den Leuten doch nicht immer hinterher!“ „Das tu ich nicht! Ich will nur...“ Aber weiter kam ich nicht, denn Min-chan verließ das Zimmer. Mit verschränkten Armen ließ ich mich auf meinen Stuhl fallen und runzelte die Stirn. Immer musste Min-chan überreagieren.
Es wurde immer kälter und man merkte, dass es bald Herbst werden sollte. Als eines Samstagmorgens im Wetterbericht stand, dass das letzte heiße Wochenende bevorstand, packte ich sofort meine Kopfhörer und Schulhefte in meine älteste Tasche und flitzte los, um an meinem Lieblingsplatz zu lernen. Auf dem Weg versuchte ich, die Sonne so viel wie möglich zu genießen, außerdem konnte ich vor dem Winter noch einmal eine schöne Bräunung vertragen – ich war sozusagen der Vampir der Klasse, so weiß war ich im Gesicht. Der Weg zu meinem Lieblingsplatz führte durch meine Siedlung. Sie bestand nur aus kleinen Bungalows. Ich mochte es hier, es war sehr schön und ruhig. Eigentlich wohnten hier nur alte Leute, aber mir machte das nichts aus. In Sudara war alles in der Nähe und zu Fuß erreichbar, weil es ein sehr kleines Dorf war. Es gab nur drei Schulen: Die Volksschule, die Mittelschule und die Oberschule, die ich besuchte. Fast jeder kannte hier jeden. Entspannt breitete ich die Arme aus, schloss die Augen und ließ den angenehm kühlen Wind an mir vorbeiwehen. Überall standen Bäume, die schon langsam ihre Blätter verloren, aber im Moment sah man noch die schönen, tiefroten Blätter. Ich musste nur zwischen ein paar Bungalows durchgehen, schon war ich bei einem kleinen Wald angekommen. Glücklich sah ich in den Himmel. So stellte ich mir den Oktober vor – warm und sonnig. Ich freute mich jedes Jahr auf die warmen Tage und zitterte schon, wenn ich an den Winter dachte. Kälte zählte zu den wenigen Dingen, die ich über alles hasste. Im Winter war alles immer so kalt und leblos, als stände die Zeit still. Aber ich dachte schnell an die Gegenwart und die Sonne. Wie immer wenn ich am Weg träumte, verging die Zeit sehr schnell. Obwohl nicht sehr viel Zeit schnell vergehen konnte: Ich musste nur etwa fünf Minuten zu Fuß gehen, und schon war ich da. Mein Lieblingsplatz war ein größerer Hügel, der mitten in dem Wald stand. Die Bäume wuchsen fast bis zur Spitze des Hügels. Wenn ich ganz oben saß, konnte ich die wunderschöne Landschaft, die Berge und Seen, beobachten, und wenn ich weiter unten war, fühlte ich mich ziwschen den vielen Bäumen geschützt. Das Beste an diesem Platz aber war, dass nie jemand dort hinkam. Hier konnte ich immer ungestört sein, zu jeder Tageszeit. Gelegentlich kam ich sogar nachts hierher, wenn ich nicht schlafen konnte. Ich holte mein Heft aus der Tasche, streifte mir die Jacke von den Schultern, setzte mich in die Wiese ud lehnte meinen Kopf zurück. Ich schloss die Augen und genoss den kühlen Wind. Leider hatte ich nur kurz Zeit zum Entspannen, denn ich hatte drei Fächer zum Nachschreiben und zwei Seiten zu Lernen. Gerade hatte ich mein Buch für Mathematik aus der Tasche gezogen, da sah ich plötzlich ganz dicht neben mir einen Schatten. Ich bildete mir sogar ein, ich hätte Motsakus unglaublich ernste Augen gesehen. Erschrocken sprang ich auf und drehte mich vor Aufregung um mich selbst. Aber ich konnte niemanden sehen, dem der Schatten gehören könnte... Auf einmal spürte ich einen blitzartig starken Windstoß direkt in mein Gesicht wehen. Komischerweise war er sehr warm. Genau gesagt, hatte ich noch nie einen so warmen Wind erlebt. Es hatte sich fast so angefühlt, als hätte mir jemand mit einem Fön ins Gesicht geblasen. Verwirrt fuhr ich mir durch die Haare und sah mich noch einmal um. Aber nirgends war jemand zu sehen. Verstört packte ich mein Buch ein, zog meine Jacke an, warf mir die Tasche über die Schulter und marschierte nach Hause. In letzter Zeit passierten mir immer öfter seltsame Dinge. Oder ich bildete es mir nur ein, weil mich Sotsuke und vor allem dieser Motsaku so durcheinander brachten. Überhaupt kam es immer öfter vor, dass ich wegen dieses seltsamen Jungens nicht schlafen konnte. Außerdem hatte ich immer weniger Zeit, weil ich durch ihn sehr abgelenkt von der Schule war und alles nach der Schule nachschreiben und lernen musste. Auch die nächsten zwei Wochen verliefen auf ähnliche Weise, es passierte nichts Aufregendes und ich gab es auch langsam auf, mit Motsaku zu reden. Trotzdem fand ich ihn nicht etwa weniger merkwürdig. Seine Anfälle hörten nicht auf, auch nachdem mehr als zwei Wochen vergangen waren. Es konnte also nicht sein Blinddarm gewesen sein, das hatte ich sowieso von Anfang an bezweifelt. Ich wollte immer noch herausfinden, was er vor uns allen geheimhielt. Nicht, dass es wichtig für mich wäre, aber ich war einfach so neugierig. Ich wollte wissen, warum er manchmal aussah, als hätte er unerträgliche Schmerzen, warum er immer sofort verschwand, wenn die Schule aus war, warum er mit niemanden redete, warum sich seine Augenfarbe ständig änderte...Das alles brachte mich dazu, etwas zu tun, was eigentlich sehr gemein ist und nicht im Sinn aller Personen, die ich kannte, gewesen wäre. An dem Tag, an dem es passierte, war es zum ersten Mal seit letztem Februar richtig kalt und man merkte, dass es bald Winter wurde. Die Bäume trugen nur noch sehr wenige Blätter und die Wiesen waren dunkelgrün und voller Frost. Als ich zur Klassentür hereinkam, hatte ich irgendwie das Gefühl, mein Vorhaben würde mir gelingen. Ich hatte auch jeden Grund dafür: Heute hatte ich elf Stunden lang geschlafen. Seit zwei Monaten hatte ich nicht mehr so gut geschlafen. Und immer wenn ich so ausgeschlafen war, klappten meine Pläne. Ich packte schon früher als Motsaku meine Bücher und Hefte ein. Min-chan sah mich fragend an,aber ich zuckte bloß die Schultern. „Ah“, sagte der Mathematiklehrer plötzlich viel lauter und kam auf mich zu, „und wie ich sehe, will Miss Shinara heute besonders früh zu Mittag essen. Ich bitte dich aber doch, dass du noch wartest, bis ich den Unterricht beende.“ Ich seufzte, verdrehte den Augen und stellte meinen Rucksack wieder auf den Boden. Nervös sah ich auf die Uhr, in zwei Minuten war die Schule aus... Sogar Motsaku begann schon, sich fertigzumachen, damit er wie immer pünktlich weggehen konnte. Leise bewegte ich den Reißverschluss meines Federpennals nach vorne und schob es fast lautlos in meinen Rucksack. Wieder sah ich auf die Uhr: Noch 70 Sekunden. „... und die Lösung wird erst nächstes Mal verraten, und zwar von euch! Hausaufgabe bis morgen!“ Alle stöhnten entnervt auf, und ich nützte den lauten Augenblick, um schnell meine restlichen Sachen zusammenzupacken. Der Lehrer kam jetzt zu mir. „Shinara“, sagte er ernst, „ich weiß ja, du freust dich schon auf deinen freien Nachmittag, aber den Unterricht beende immer noch ich.“ Immer nervöser nickte ich. Wieder schaute ich hoch zur Uhr. Noch 40 Sekunden. „Wenn so etwas noch einmal vorkommt, trage ich dir ein Minus ein, klar?“ Wieder nickte ich. „Sag mal, hörst du mir überhaupt zu?“ „Natürlich!“, sagte ich und nickte wieder, diesmal aber energisch. Noch 30 Sekunden. „Gut. Also, ich wiederhole es jetzt noch einmal: Ich mache das ja nicht, weil ich dir etwas Böses tun will, ich muss nur meinen Lehrstoff in fünf Stunden pro Woche unterbringen! Also, bitte hör mir das nächste Mal zu, bis ich den Unterricht beende!“ „Ja, Mr Mizuka!“ Noch 20 Sekunden. Kopfschüttelnd entfernte er sich wieder und ich konnte mich endlich fertigmachen. Eilig lief ich zum Kleiderständer neben der Tür und griff mir meine Jacke. Ich zog sie mir über die Arme, warf mir meinen Rucksack um die Schultern und sah wieder auf die Uhr. Zufrieden lächelte ich: Noch genau 5 Sekunden. Schon sah ich, wie Motsaku seinen Stuhl auf den Tisch stellte und Anstalten machte, zu gehen. Jetzt nur nicht nervös werden, ermutigte ich mich. Ich beobachtete Motsaku ganz genau, und sobald er den Raum verlassen hatte, zwinkerte ich Min-chan schnell zu und folgte ihm – leise und unauffällig. Aus dem Augenwinkel konnte ich noch sehen, wie sie den Kopf schüttelte, aber das war mir jetzt egal. Kurz zögerte ich; war es mir das wirklich wert? Aber mir blieb keine Zeit zum Überlegen, ich musste sehen, wie ich Motsaku an den Fersen bleiben konnte. Meine Augen waren nur auf seinen Rücken gerichtet und ich kämpfte mich durch die Masse an Schülern, die alle jetzt schulaus hatten. Keuchend quetschte ich mich durch die vielen Leute, die mir den Weg versperrten und atmete kurz auf, als ich durchgekommen war. Jetzt rannte Motsaku nach draußen, ich folgte ihm weiter. Komischerweise ging er den gleichen Weg, den ich immer nahm, wenn ich nach Hause ging... Aber das war mir jetzt egal, denn ich konzentrierte mich nur daurauf, Motsaku nicht aus den Augen zu verlieren. Bis jetzt hatte er genau denselben Weg wie ich... Wohnte er etwa in derselben Siedlung? Weiter rannte er an meinem Haus vorbei, er wurde immer schneller... Langsam wurde es für mich schwierig, bei dem Tempo leise zu bleiben... Und plötzlich passierte es: Ich stolperte über einen Stein und stöhnte. Blitzartig drehte Motsaku sich um, zum Glück stand direkt neben mir ein Baum und ich konnte mich in der letzten Sekunde dahinter verstecken... Aufgeregt keuchte ich so leise wie möglich. Es tat gut, kurz Luft zu holen. Motsaku kam auf mich zu, doch wieder hatte ich Glück. Neben meinem Baum stand ein Busch. Schnell verschwand ich darin, man konnte mich fast nicht mehr sehen. Das war das Gute an den Büschen im Winter: Sie waren nicht mehr so dicht und man konnte sich gut darin verhüllen, ohne erkannt zu werden. Misstrauisch beäugte Motsaku den Busch. Ich hielt den Atem an. Er war jetzt so nah, dass ich sogar erkennen konnte, dass seine Augen heute hellbraun waren... Langsam entfernte er sich wieder. Erleichtert atmete ich auf. Ich hatte aber nicht viel Zeit dazu, denn Motsaku rannte schon wieder weiter. Aufgeregt folgte ich ihm wieder. Plötzlich klappte er in sich zusammen: Wieder hatte er so einen Schmerzanfall! Ich kniff die Augen zusammen, denn der Wind blies mir ins Gesicht. Eine Frau mit Baby sah uns verdutzt nach. Motsaku rannte immer schneller, er stöhnte und keuchte vor Schmerz. Hoffentlich war es nicht mehr weit... Meine Beine taten mir schon weh... Er kam jetzt zu dem Wald, in dem sich mein Lieblingsplatz befand. Seltsam. Kannte er diesen Hügel etwa? Tatsächlich kamen wir meinem „Gutso-Hügel“, wie ich ihn gern nannte, immer näher. „Gutso“ war mein erster Wort, das ich auf diesem Hügel gesagt hatte. Ich konnte es kaum glauben: Motsaku lief tatsächlich auf den Hügel! Kopfschütteld versteckte ich mich hinter einem Baum, der weit oben auf dem Hügel stand. Er stand auf meinem Gotsu-Hügel! Wütend schnaubte ich und beobachtete weiter, was passierte. Jetzt klappte Motsaku in sich zusammen, er stöhnte immer noch. Es war genau wie seine anderen Anfälle, die er während des Unterrichts bekommen hatte! Wieder bildete ich mir ein, er würde zu flackern beginnen... Oder war es etwa gar keine Einbildung? Tatsächlich schien sein Körper langsam zu verblassen. Entgeistert schüttelte ich den Kopf und rieb mir die Augen... Doch es war tatsächlich real, was gerade vor meinen Augen passierte! Motsaku verblasste immer stärker, und zehn Sekunden später war er durchsichtig und ich konnte nur mehr seine Umrisse und sein Gesicht erkennen! Völlig verdutzt starrte ich ihn an. Ich hörte, wie er keuchte und erleichtert ausatmete. Wieder schüttelte ich entgeistert den Kopf und kam hinter meinem Baumversteck hervor. „Was... bist du?!“, fragte ich ihn, immer noch schockiert. Ich konnte sehen, wie Motsaku erschrak. Er rauschte an mir vorbei, als würde er schweben. Wütend verfolgte ich ihn. „Bleib stehen!! Warum rennst du immer weg?!“ Am Fuß des Hügels blieb Motsaku stehen und drehte sich zu mir um. „Du kannst mich... sehen?“, fragte er langsam. „Was denkst denn du? Nur, dass du so durchsichtig bist, wenn du verstehst, was ich meine!“ Das konnte nur ein Traum sein... Motsaku blieb der Mund offen. „... Du hast... Du bist...“ Ich unterbrach ihn aufgewühlt: „Erst einmal frage ich dich: Wer oder was bist du?!“ „Nun, ich... Um ehrlich zu sein, bin ich ein...“ Erwartungsvoll keuchte ich und sah ihm in die Augen. Sogar während er durchsichtig war, konnte man ihre Farbe sehen; sie waren orange. „...Ja?“ „Ein... Geist.“ Ein Geist? Sehr langsam realisierte ich, was ich gerade erfahren hatte. Es gab... Geister? Völlig perplex hielt ich den Atem an. Ich zitterte... Stand hier wirklich ein Geist vor mir? Eine unheimliche Atmosphäre lag in der Luft. Es war kalt, der Himmel dunkel, und man konnte nichts außer unserem Atmen hören. „...Was?“, fragte ich verwirrt. Motsaku starrte mich fast zornig an. „Warum... Sagst du es... keinem...?“ stotterte ich. Bitter keuchte er: „Was würdest du denken, wenn ich dir sage, ich wäre ein Geist?“ Er stand jetzt einige Meter entfernt von mir und sah mir tief in die Augen. „Ich würde dich wohl... Wahrscheinlich würde ich dich für verrückt halten“, antwortete ich ehrlich. „Siehst du? Das ist der Grund...“ Langsam stieg ich wieder an die Spitze des Hügels. Motsaku folgte mir und setzte sich neben mich. Ohne ihn anzusehen, sagte ich: „Was machst du immer in den Pausen...? Und was ist mit deinen Schmerzanfällen?“ Ich wurde immer lauter und aufgeregter. „Und warum ändert sich deine Augenfarbe immer? Und... warum bist du jetzt... durchsichtig?!“ „Beruhig dich. Das gehört alles dazu...“ “Wozu?!“, sagte ich und sah ihm verstört in die Augen. „Dazu, ein Geist zu sein.“ „Oh... Also... Wirst du mir etwas erzählen?“, fragte ich und konnte alles irgendwie nicht glauben. „Na gut... Also... Wie gesagt bin ich ein Geist.“ Ich nickte langsam. „Es gibt vier Arten von Geistern: Vollgeister, Halbgeister, Erbgeister und Stellongeister.“ Ich machte große Augen und sah ihn erwartungsvoll an. „Vollgeister sind von Geburt an Geister, wenn beide Elternteile auch Geister sind. Halbgeister entstehen, wenn ein Elternteil Geist und ein anderer Mensch ist. Erbgeister wurden von einem anderen Geist verwandelt. Stellongeister-“ “Hey, warte mal. Verwandelt? Wie, verwandelt?“, fragte ich überrascht. „Ähm... Nun ja...“, stotterte Motsaku, „ich bin mir nicht sicher, ob du das wissen-“ „Doch!“, unterbrach ich ihn. „Na gut... Also... Wenn ein Mensch stirbt, kann ein Geist einen Teil seiner Seele opfern, und der Mensch kann weiterleben.“ “Für... immer?“ Motsaku nickte ernst. „Erzähl mir mehr!“, bat ich ihn. „Nicht hier“, grinste er und nahm mich an der Hand. Aufgeregt folgte ich ihm. Er rannte den Hügel herunter und ich fühlte mich, als würde ich einfach und leicht hinter ihm hergleiten. Motsaku sah sehr anmutig aus, wie blaue Nebelschwaden oder ein Polarlicht, wenn er so schnell lief. Wir liefen jetzt hinter dem Hügel tiefer in den Wald hinein. Hohe Bäume, knorrige Sträucher und Gebüsch strichen an mir vorbei, während ich so schnell und leicht zu laufen schien. Nach etwa einer Minute blieben wir langsam stehen. Was ich jetzt sah, verschlug mir die Sprache: Wir standen nebeneinander, hinter uns die hohen, dunklen Bäume, vor uns eine riesige grüne Wiese voller Blumen, hier und da einige Hügel, die höchstens einen Meter hoch waren, ein paar Obstbäume. Es war wie im Paradies... Begeistert schüttelte ich den Kopf, als ich bemerkte, wie schwindlig mir war. Ich setzte mich ins Gras und genoss die wunderschöne Aussicht. „Alles okay?“, fragte Motsaku, der sich auch gesetzt hatte. Ich nickte glücklich und atmete tief ein. Die Luft war kühl und frisch. „Bist du oft hier?“, fragte ich und sah ihm in die orangefarbenen Augen. „Ja“, sagte er und schaute nachdenklich in die Ferne. Am Horizont konnte man einige Berge erkennen. „Als wir hier eingezogen sind, habe ich die Gegend erkundet und dabei diesen Platz entdeckt. Hier kommt nie jemand her“, murmelte er, „außer uns.“ Wir sahen uns für einen kurzen Moment in die Augen, aber ich war so verwirrt, dass ich wegsah. Ich musste jetzt wieder klar im Kopf werden. Mir war so kalt, dass ich schauderte. Motsaku gab mir seine Jacke, ich lächelte ihn dankend an und streckte meine Arme durch die viel zu langen Ärmel. „Du hast mir noch nichts von den Stellongeistern erzählt“, erinnerte ich mich wieder. Er grinste. „Stellongeister werden auch Todesgeister genannt. Halbgeister sind sterblich, und wenn sie wollen, können sie nach dem Tod weiterleben – als Todesgeist. Das ist allerdings etwas kompliziert...“, erklärte er. „Das heißt also, Geister altern wie wir Menschen?“, fragte ich neugierig. „Nun, das ist verschieden. Also, Vollgeister altern nur, solange sie sichtbar sind-“ „Wie, sichtbar? Ich sehe dich doch die ganze Zeit!“, sagte ich überrascht. „Nun...“, murmelte Motsaku und wechselte dann das Thema. „Diejenigen, die von Geburt an Geister sind, sind sterblich. Den Rest erkläre ich dir später“, meinte er. „Halbgeister haben es da schwieriger. Sie können sozusagen ihren Status ändern, also kontrollieren, ob sie altern wie Menschen oder stillstehen. Aber ich kann dir sagen, es ist unglaublich kompliziert, den Status zu ändern. Stellongeister altern nicht mehr seit dem Zeitpunkt des Todes, sie werden allerdings bei der Verwandlung jünger, viel jünger. Die meisten sind danach ungefähr zwischen 20 und 30 Jahren alt. Bei den Erbgeistern ist es ähnlich, sie altern seit der Verwandlung nicht mehr. Sie sehen jünger aus, bleiben aber so alt wie sie bei der Verwandlung waren. Es ist alles etwas kompliziert mit uns Geistern“, murmelte Motsaku und blickte wieder nach vorn. Ich folgte seinen Augen. Eigentlich fand ich diesen Platz viel zu schön, sogar bei dieser Kälte und grauem Himmel, um über so etwas surreales wie Geister zu reden. Ich wollte nur noch eine Frage stellen. „Was für eine Art Geist bist du?“, fragte ich gespannt. „Halbgeist“, sagte Motsaku schlicht und stand auf. „Ich muss gehen“, erklärte er, als ich ihn fragend ansah. Etwas enttäuscht stand ich auch auf und begann, in Richtung heim zu gehen. „Bis morgen“, rief Motsaku mir noch zu, und ich winkte ihm. Am Heimweg dachte ich über das Ganze nach. Ich hatte ja schon so einiges im Kopf gehabt, von Schlafstörungen über Krebs bis hin zu Abhängigkeit. Aber an so etwas hatte ich überhaupt nicht gedacht... Es machte mir irgendwie Angst, aber irgendwie fand ich es auch anziehend. Um mich herum wurden die Bäume immer dichter; ich kam jetzt in die Mitte des Waldes. Hier kannte ich mich gar nicht aus, da ich erst einmal und da in sehr schnellem Tempo vorbeigekommen war. Etwas ängstlich sah ich mich um, dann dachte ich daran, was Papa immer gesagt hatte: „Geh immer geradeaus.“ Da ich nichts zu verlieren hatte, beschloss ich seinem Rat buchstäblich zu folgen und ging zielstrebig nach vorne. Und tatsächlich: Ich fand meinen Gutso-Hügel. Erleichtert atmete ich aus; ich hatte mich schon einmal verlaufen und es war kein Spaß gewesen. Jetzt war es einfach nach Hause zu finden, da ich den Weg ab hier ja kannte. Während ich den Hügel hochkletterte, fiel mir erst auf, wie wenig ich von ihm wusste, wenn ich es mit den Dingen verglich, die ich noch nicht wusste. Ich hatte ganz vergessen, ihn das Wichtigste zu fragen: Ich wusste noch immer nicht, welche Ursache seine Anfälle während des Unterrichts hatten... Morgen würde er mir hoffentlich mehr erzählen.
Der nächste Tag begann wunderbar. Die Sonne schien durch den zugezogen Vorhang meines Fensters, und ich strahlte, als ich aufwachte. Ich freute mich schon auf den Tag, wir hatten nur bis mittags Schule, außerdem war ich gespannt, ob Motsaku sich verändert hatte. Gut gelaunt zog ich mein buntestes T-Shirt und Jeans an und fuhr mir schnell mit der Bürste durch die Haare. Dann schlenderte ich gemütlich in die Küche, machte mir eine Schüssel Müsli und es kam mir vor, als wäre es heute besonders lecker. Fröhlich sang ich vor mich hin, da kam Mama zur Tür herein. „Alles okay?“, fragte sie besorgt, „du hast geschrien!“ „Nein“, lachte ich, „nur gesungen!“ „Du bist ein echtes Naturtalent“, sagte Mama fröhlich. Ich kicherte. Als ich zur Schule ging, war es kalt. Nebel lag in dicken Schleiern am grauen Himmel, ich zitterte ein wenig und kuschelte mich in meine dicke Jacke; trotzdem war ich noch immer fröhlich. Mit schnellen Schritten näherte ich mich der Schule, schon nach drei Minuten war ich angekommen – viel früher als sonst. Voller Vorfreude öffnete ich die Eingangstür der Schule und schob mir noch ein Pfefferminzbonbon in den Mund, bevor ich in die Klasse ging. Ich kniff die Augen zusammen, weil es so scharf war, dass mir fast die Tränen in die Augen schossen. Aber ich machte mir Mut: Du musst da jetzt durch. Oder willst du Mundgeruch haben, wenn du mit Motsaku redest? Also betrat ich fest entschlossen die Klasse. Zuerst ließ ich meinen Blick nach hinten schweifen, udn tatsächlich: Motsaku war schon da – viel früher als sonst, wie ich. Bedacht hängte ich meine Jacke am Kleiderständer neben der Tür auf und ging langsam zu meinem Tisch. Min-chan begrüßte mich, fröhlich winkend, und fragte mich sofort, was ich gestern gemacht hatte. „Na ja, was soll ich schon groß gemacht haben ?“, fragte ich scheinheilig, während ich meinen Rucksack auf den Tisch warf. „Du warst doch irgendwo...?“, fragte sie neugierig. „Nein“, log ich schnell. Ich wollte ihr vorerst noch nichts sagen, zumindest nicht hier. „Nach der Schule“, sagte sie fast schon herrisch. Ich nickte schnell und packte meine Stifte und Bücher aus. Da bemerkte ich, wie Motsaku mich beobachte. Ich konnte seinen Blick schon fast im Nacken spüren, so intensiv kam mir sein Starren vor. Aber als ich mich umdrehte, bemerkte ich, dass seine heute violetten Augen diesmal viel wärmer waren. „Hallo“, sagte ich schnell. „Hallo“, erwiderte er freundlich und sah mir in die Augen. „Und...“, stotterte ich. Was sollte ich schon sagen? „Wie geht´s so?“ „Gut“, sagte Motsaku, „und dir?“ „Auch gut“, antwortete ich ehrlich. Dann fügte ich etwas verlegen hinzu:„Was ich dich eigentlich fragen wollte, ist...“ Ich schwieg einen Moment lang. „Ja, finde ich auch“, lächelte er verschmitzt. Beschämt starrte ich auf den Boden, zum Glück rettete mich in diesem Moment unser Mathematiklehrer, der hereinkam und begann, Zahlen aufzuschreiben. Der Tag verging sehr langsam, zwischendurch schlief ich fast ein, während wir zu hören bekamen, wie alte Völker sich in Italien angesiedelt hatten oder wie Viren überlebten. Aber zum Glück verging auch dieser Tag und gegen Mittag klingelte es. Motsaku nickte mir zu, sagte: „Wir sehen uns beim Eingang!“ und stürmte wie immer aus der Klasse. Kopfschüttelnd sah ich ihm nach. Ich konnte es gar nicht erwarten, ihn nach dem Grund für sein schnelles Verschwinden zu fragen. Langsam nahm ich meine Jacke vom Ständer, zog sie an und rauschte aus der Klasse. Wieder steckte ich mir ein Pfefferminzbonbon in den Mund und ging dann nach draußen. Der Flur war noch fast leer, da die meisten noch Schule hatten. Etwa zwei Minuten später kam auch Motsaku. Er lächelte kurz und sagte dann: „Also dann.“ “Wohnst du hier?“, fragte ich, als wir an meinem Haus vorbeigingen. Motsaku nickte. „Gleich dort drüben“, sagte er und nickte zu meiner Nachbarsiedlung. Überrascht rief ich: „Ich wohne fast neben dir!“ Er zog die Augenbrauen hoch: „Was für ein Zufall... Hier?“ Ich nickte schnell, bevor wir in Richtung Wald abbogen. „Also, warum läufst du in den Pausen immer weg?“, fragte ich gespannt.